Chancen der digitalen Transformation für die Soziale Arbeit

Die von Beziehungsarbeit und von persönlichen Kontakten geprägte Soziale Arbeit und die digitale Transformation scheinen auf den ersten Blick nur schwer vereinbar. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen jedoch, dass die digitale Transformation auch in der Sozialen Arbeit in zahlreichen Anwendungsbereichen neue Möglichkeiten eröffnet. Mit dem Kompetenzzentrum «Digitalisierung & Soziale Arbeit» unterstützt der Verein sozialinfo.ch Organisationen und Fachpersonen aus dem Sozialbereich dabei, diese Möglichkeiten zu nutzen und fördert mit seinen Dienstleistungen ihr digitales Empowerment. Im Gespräch erläutern Thomas Brunner, Geschäftsführer von sozialinfo.ch und socialdesign-Inhaber Andreas Dvorak was es benötigt, um die Chancen der digitalen Transformation für die Soziale Arbeit zu nutzen und welches aus ihrer Sicht dabei die grössten Herausforderungen sind.

 

 

 


v.l.n.r.: Thomas Brunner, Andreas Dvorak

 

Welche Veränderungen hat die digitale Transformation in den letzten Jahren für das Sozialwesen gebracht?

Thomas Brunner: Die Bandbreite des Einflusses der digitalen Transformation ist so breit wie der Sozialbereich selbst. Es gibt keine einheitliche Entwicklung, jedoch lässt sich sagen, dass die digitale Transformation einen starken Klient:innenbezug aufweist. Die digitale Transformation ermöglicht einen noch stärkeren Bezug zur Lebenswelt der Klient:innen: Menschen, die in ihrer Lebenswelt hauptsächlich digital unterwegs sind, können zunehmend auch digital angesprochen werden. Dies ist beispielsweise in der niederschwelligen Beratung zu Themen der psychischen Gesundheit bereits schon Standard. Andere Bereiche des Sozialwesens funktionieren nach wie vor noch sehr analog. Dies ist sehr gut zu verstehen, da der Kern der Sozialen Arbeit in der Beziehungspflege, also im «Dasein», liegt. Die Covid-19-Pandemie hat jedoch die Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit auf einen Schlag verändert: Plötzlich waren digitale Leistungen keine Wahl mehr, sondern digitale Kommunikationsformen häufig der einzige Weg, um mit den Klient:innen zu interagieren. Soweit ich das überblicken kann, hat sich daraus jedoch keine neue Normalität ergeben. Dies kann damit zusammenhängen, dass die digitale Transformation in Organisationen aktiv geplant werden muss und Ressourcen beansprucht. Während der Pandemie hat man improvisiert, da jedoch keine Konzepte für die so geschaffenen digitalen Leistungen bestanden, kehrte man nach der Pandemie wieder zu den gewohnten Prozessen und Abläufen zurück.

Andreas Dvorak: Diese spontane Digitalisierung aufgrund fehlender anderer Möglichkeiten habe ich während der Pandemie insbesondere im Migrationsbereich beobachtet. Plötzlich wurden Entwicklungen, die nicht aus dem Sozialbereich stammten, adaptiert und Alltagstools wie What’s App oder Deepl auch im sozialberuflichen Kontext verwendet. Diese kleinen Innovationen waren während der Pandemie sehr hilfreich, stellten Fachpersonen jedoch auch vor neue Herausforderungen. Plötzlich waren Privatleben und Beruf vermischt, da man häufig von den privaten Geräten aus kommunizierte. Es gab nun zusätzliche Kanäle, über die Anfragen eintreffen konnten und gleichzeitig fehlten Richtlinien, wie mit den unterschiedlichen Kanälen umzugehen ist und wie die Abgrenzung zwischen Privatem und Beruflichem gewahrt werden kann. Zudem stellten sich auch datenschutzrechtliche Herausforderungen.

Welches sind die diesbezüglichen Herausforderungen aktuell und in Zukunft für die Organisationen des Sozialwesens?

Thomas Brunner: Eine zentrale Herausforderung für Organisationen ist aus meiner Sicht, zu akzeptieren, dass die digitale Transformation in der Verantwortung der Organisation und nicht in derjenigen der angestellten Fachpersonen liegt. Es braucht klare Prozesse und eine entsprechende Alimentation. Der Prozess der digitalen Transformation muss insgesamt gesteuert werden und ausreichend personelle und finanzielle Ressourcen vorhanden sein. Es ist wichtig, dass es klare Konzepte für die neuen digitalen Leistungen und Abläufe gibt, damit sich das aufgebaute Wissen langfristig in den Organisationen verankern kann.

Welche Chancen bieten Digitalisierung und digitale Transformation heute und in Zukunft? Bezüglich welcher Dienstleistungen und Settings sehen Sie die grössten Potenziale?

Thomas Brunner: Ich bin überzeugt, dass die digitale Transformation für praktisch alle Bereiche der Sozialen Arbeit einen Mehrwert bieten kann. In der gesetzlichen Sozialarbeit liegt der grösste Nutzen sicherlich in der Automatisierung standardisierter administrativer Prozesse. Die so gewonnene Zeit kann von den Fachpersonen in die direkte Beziehungspflege mit den Klient:innen investiert werden. Zudem kann die digitale Transformation auch direkt in Klient:inneninteraktion genutzt werden, indem man neue Tools zur Verfügung hat. So könnten sich Klient:innen beispielsweise direkt via Online-Formular für die Sozialhilfe anmelden. Die Aufgabe der Sozialarbeitenden würde sich in diesem Fall verlagern: weg von der administrativen Tätigkeit des Anmeldens, hin zur Unterstützung und Befähigung der Klient:innen sich selbstständig anzumelden.

Andreas Dvorak: Dies würde mit einer veränderten Rolle der sozialarbeiterischen Fachpersonen einhergehen. Im Fokus würde wieder mehr die Befähigung der Klient:innen und weniger die administrativen Tätigkeiten stehen. Diese Rückbesinnung auf die Facharbeit wäre ein enormer Mehrwert für alle Beteiligten, der über die reine Zeitersparnis dank automatisch ablaufender Prozesse hinausgeht.

Thomas Brunner: Genau, man würde sich somit auch auf den Bildungsauftrag zurückbesinnen, der in der Sozialarbeit ebenso wie in der sozialpädagogischen Tätigkeit vorhanden ist. Es ist enorm wichtig, die Klient:innen dabei zu unterstützen und begleiten, sich in der zunehmend digitalen Welt selbstständig zurechtzufinden. Ein weiteres Potenzial der digitalen Transformation liegt darin, dass die Angebote und Leistungen der Sozialdienste weniger an Öffnungszeiten gebunden sind und dann zur Verfügung stehen, wenn die Klient:innen sie nutzen können und wollen. Die digitale Transformation kann somit auch die Niederschwelligkeit von Leistungen erhöhen. Gerade im Jugendbereich wird zunehmend auf blended counselling gesetzt. Das heisst, dass die begleiteten Jugendlichen über die Kanäle und in jenen Formaten mit den Sozialarbeitenden kommunizieren, welche für sie am nähesten an ihrer Normalität liegen. So kann zum Beispiel per Sprachnachricht ein Termin für eine persönliche Beratung vereinbart werden. Auch die Kommunikation in Fremdsprachen wird durch die Digitalisierung erleichtert. Zudem können bestimmte Teile der Unterstützungsarbeit an digitale Medien delegiert werden – beispielsweise kann ein Erklärvideo in unterschiedlichen Sprachen dazu befähigen, sich selbstständig online für Sozialhilfe anzumelden.

Andreas Dvorak: Ich sehe dabei vor allem auch die Multiplizierbarkeit von Inhalten als einen grossen Vorteil. Wenn unterschiedliche Akteur:innen des Sozialbereichs zusammenarbeiten, könnte sehr effizient ein Grossteil der für die Klient:innen relevanten Informationen adressat:innengerecht digital zur Verfügung gestellt werden. Digitale Formate bieten zudem auch Potenzial für die Aus- und Weiterbildung der sozialarbeiterischen Fachpersonen.

Thomas Brunner: Du sprichst einen wichtigen Punkt an: Digitalisierung und digitale Transformation sollten nicht nur in Bezug auf administrative Tätigkeiten gedacht werden. Es geht vielmehr auch darum, Inhalte zu produzieren oder auch Teile der Klient:inneninteraktion digital zu unterstützen. In den meisten Fällen ersetzt die digitale Kommunikation nicht den persönlichen Kontakt, aber sie kann ergänzend eingesetzt werden: Gute Erfahrungen hat man beispielsweise mit digitalen Anwendungen für Menschen mit Depressionen gemacht. Spezifische Apps kontaktieren täglich ihre Nutzer:innen und geben aktivierende Impulse. Auch wenn das keine echte Beziehung ist, mindern diese digitalen Hilfestellungen die gefühlte Einsamkeit von Betroffenen. Für Fachpersonen hingegen ist es kaum möglich, täglich mit ihren Klient:innen zu interagieren.

Was braucht es, damit digitale Transformation und Digitalisierung für die Klient:innen gerecht und inklusiv gestaltet werden können (d.h. dass durch zunehmend digitale Prozesse keine Nachteile für bestimmte Menschen entstehen)?

Thomas Brunner: Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft ist auch ein Grossteil der Zielgruppen der Sozialarbeit im Alltag digital unterwegs. Daher fehlt es aus meiner Sicht häufig eher an User Involvement, also dass die Klient:innen zum Beispiel gefragt werden, welche Kommunikationskanäle sie in welcher Situation bevorzugen und dies von den Fachpersonen dann auch entsprechend umgesetzt wird. Die Kommunikation sollte sich somit verstärkt an der individuellen Normalität der Klient:innen ausrichten, damit keine Nachteile entstehen. Zudem zeigen sich die Bildungsnachteile aus der analogen Welt auch in der digitalen Welt. Es braucht somit neben den digitalen Formaten vor allem auch niederschwellige Bildungsangebote zur Förderung der digitalen Kompetenzen. Damit dies gelingt, ist bei den Organisationen aus dem Sozialwesen das Bewusstsein zu fördern, dass Digitalisierung vielmehr der Inklusion dient, als dass sie eine Gefahr für die Exklusion darstellt.

Vielen Dank euch beiden für das inspirierende Gespräch!