Projekte zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Interview mit Dr. Robert Sempach, Projektleiter Gesundheit bei Migros-Genossenschafts-Bund, Direktion Kultur und Soziales

Unser Interviewpartner, Dr. Robert Sempach, ist Projektleiter Gesundheit beim Migros-Genossenschaftsbund, Direktion Kultur und Soziales. Socialdesign durfte ihn im Hinblick auf die (Weiter-) Entwicklung der beiden Projekte Tavolata und Caring Communities (CC) unterstützen. Hier erfahren Sie, was hinter den beiden Begriffen resp. den dazugehörigen Projekten steckt. Weiter berichtet Robert Sempach über die Zusammenarbeit mit socialdesign.

Herr Sempach, können Sie uns kurz erläutern, was hinter den Begriffen «Tavolata» und «Caring Communities» steckt?
Die Abteilung Soziales des Migros-Kulturprozent beobachtet gesellschaftliche und sozialpolitische Entwicklungen und stärkt mit Projekten, die eine gesellschaftliche Dringlichkeit haben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Projekte werden mit Kooperationspartnerinnen und –partnern entwickelt und vor Ort umgesetzt, wo sie ihre Wirkung entfalten. Zwei typische Projekte der Abteilung sind „Tavolata“ und „Caring Communities.

  • «Tavolata» steht für selbstorganisierte Tischgemeinschaften und soziale Kontakte im Alter. Der Projektname stammt aus dem Italienischen und bedeutet «Tafelrunde». Tavolatas gibt es seit dem Jahr 2010, inzwischen sind in fast allen Kantonen der Schweiz rund 400 selbstorganisierte Tischrunden à ca. 6-12 Mitglieder entstanden. Bemerkenswert ist, dass diese Gruppen „zu einem Modell sorgender Gemeinschaften“ wurden. „Es finden sich viele Hinweise, dass die Gruppen für die Einzelnen Hilfe und Unterstützung leisten, auch in schwierigen Lebenslagen.“ (Studie der ZHAW, 2018).
  • Damit lässt sich der Bogen zu «Caring Communities» schlagen. Dieses Projekt befindet sich noch in der Entwicklungsphase. Es wurde durch die positiven Wirkungen von Tavolata inspiriert, verfolgt jedoch einen breiteren Ansatz, um Lösungsmöglichkeiten auf die Trends unserer Zeit (Individualisierung, Digitalisierung, Mobilität, demografischer Wandel) zu entwickeln. Diese Trends fordern den gesellschaftlichen Zusammenhalt neu heraus: Wer sorgt heute angesichts dieser Megatrends dafür, dass Menschen füreinander Sorge tragen, ganz direkt und ganz konkret? Wie können wir neue Gemeinschaften in der Gründungsphase und beim Austausch mit anderen CC-Initiativen unterstützen? Auf diese Fragen suchen wir gemeinsam mit Engagierten und Praxispartnerinnen und -partnern Antworten und dies anhand von wissenschaftlichen Recherchen, Tagungen und Workshops oder dem Aufbau eines nationalen Netzwerks.


Was waren die Beweggründe für die Entwicklung der Angebote «Tavolata» und «Caring Communities»?
Bei Tavolata bewegte uns zuerst die Fragestellung: „Wie können wir Zufriedenheit und Wohlbefinden im Alter fördern?“ Aus diesem Beweggrund entstand schliesslich die Projektidee, selbstorganisierte Tischgemeinschaften zu lancieren und ein Tavolata Netzwerk mit regionalen Tavolata Verantwortlichen (RegTaV) aufzubauen. Zurzeit engagieren sich rund 20 RegTaV für das Netzwerk, bis Ende 2019 möchten wir die Zahl auf 40 verdoppeln.
Dass wir seit einem Jahr das Thema „Caring Communities“ aufgegriffen haben, hängt einerseits mit unserer neuen Abteilungsstrategie zusammen, in der wir uns stärker auf die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts fokussieren. Andererseits hat uns die Weiterentwicklung von Tavolata den Blick geöffnet, wie wir mit unserem Knowhow und unserer Projektmethodik Selbstorganisation und Partizipation in verschiedenen Lebensbereichen und mit Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen anstossen können. Die äusserst positive Resonanz auf unsere erste nationale Tagung vom 20. Juni 2018 zeigt uns, dass das Thema von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist.

Wie verlief die Zusammenarbeit mit socialdesign oder anders gefragt, inwiefern konnte socialdesign Ihnen eine Unterstützung bieten?
Nachdem wir uns entschieden hatten, das Caring Communities-Thema weiterzuverfolgen, hat socialdesign eine breite Recherche für uns durchgeführt. Beim ersten Workshop mit Schlüsselpersonen aus der Caring Communities Szene hat Martina Schlapbach von socialdesign im Gottlieb Duttweiler Institut das Eröffnungsreferat gehalten und für die Ergebnissicherung gesorgt. Anschliessend hat sie Expertinnen und Experten sowie Laien zu zentralen CC-Aspekten befragt. Auch das Programm der nationalen Caring Communities Tagung vom 20. Juni 2018 wurde gemeinsam mit socialdesign und Prof. Christoph Steinebach von der ZHAW entworfen. Manuela Spiess hat die Ergebnisse der Umfragen vorgetragen und die wichtigsten Erkenntnisse der Tagung mittels einer Online-Befragung bei den Teilnehmenden gesichert.
Ausserdem hat uns socialdesign bei der Vorbereitung zur Entwicklung einer zukunftsgerichteten Organisationsstruktur für Tavolata massgeblich unterstützt.
Die Zusammenarbeit mit socialdesign war ausgesprochen ergebnisorientiert, professionell und trug wesentlich zur erfolgreichen Projektentwicklung bei. Die Grundlagenarbeiten waren sehr fundiert.

Was sind die bisherigen Lessons Learned im Zusammenhang mit den beiden Projekten?
Tavolata hat uns vor allem gelehrt, dass es Zeit und Geduld braucht, bis sich Projekte, in denen „Selbstorganisation“ und „Empowerment“ einen wichtigen Stellenwert einnehmen, etablieren. Im Zuge der Ausdehnung über alle Landesregionen und der Weiterentwicklung von Tavolata haben wir gelernt, dass sich Spannungen und Widersprüche nicht wegbügeln lassen, sondern als Lernchancen betrachtet werden müssen. Die Tavolata-Idee, „selbstorganisierte Tischgemeinschaften zu fördern“, klingt zwar einfach und einleuchtend. Doch spätestens bei der Frage: „Wie lässt sich ein Netzwerk oder eine Organisation der Selbstorganisation aufbauen?“ wird deutlich, dass es sich um ein komplexes Unterfangen handelt. Das setzt die stetige Bereitschaft voraus, Erfahrungen aus der Praxis und konzeptionelle Handlungsentwürfe in einen fruchtbaren Austausch auf Augenhöhe zu bringen. Was in der deutschen Schweiz oder in städtischen Regionen gut funktioniert, kommt auf dem Land oder in der Romandie vielleicht kaum vom Fleck und es braucht andere Zugänge, um die Projektidee zu verbreiten.

Diese Co-kreative Haltung wird uns sicher bei der Entwicklung des CC-Netzwerks und der CC-Fördermassnahmen zugutekommen. Wir haben zwar unsere Erfahrungen und unser Knowhow im Projektmanagement, aber wir müssen uns bei einem neuen Thema immer wieder neu intensiv mit den Bedürfnissen der Projektnutzenden und den konkreten Rahmenbedingungen auseinandersetzen, um einen gemeinsamen Weg zu finden.

Was ist in Zukunft in Bezug auf Tavolata und Caring Communities zu erwarten?
Bei Tavolata planen wir im Verlaufe der nächsten zwei Jahre gemeinsam mit Partnerorganisationen eine nachhaltige Trägerstruktur mit je einer Geschäftsstelle Deutschschweiz und Romandie/Tessin aufzubauen. Nach acht Jahren strategischer und operativer Verantwortung beim Migros-Kulturprozent ist die Zeit reif, das in allen Landesteilen bekannte Projekt so weit wie möglich in bestehende Regelstrukturen zu überführen bzw. mit nationalen Partnerorganisationen, welche die Anliegen von Tavolata teilen, gemeinsam weiterzuführen.
Der Weg, den das CC-Projekt einschlagen wird, ist noch vage. Es sind weitere Workshops mit Schlüsselpersonen aus der Wissenschaft und Praxis geplant, um Struktur und inhaltliche Schwerpunkte eines nationalen Netzwerks sorgfältig abzuklären und zu eruieren. Wer in welcher Form das Netzwerk mitgestalten und mittragen wird und welche inhaltlichen Themen im Vordergrund stehen werden, muss sich erst noch weisen. Denkbar ist auch, dass das Migros-Kulturprozent eine „partizipative CC-Schriftenreihe“ herausgeben wird und weitere Fördermassnahmen für innovative CC-Projekte entwickelt. Zurzeit laufen die entsprechenden Abklärungen.

Vielen Dank für dieses Interview.