Schweizer Identität im Plural denken

Interview mit Andi Geu, Geschäftsleiter des National Coalition Building Institute Schweiz (NCBI)

Differenziert über Schweizer Identität nachdenken, indirekt Rassismus bekämpfen – diese Ziele verfolgen Andi Geu, sein Team und ein wachsendes Netz an Partnerorganisationen mit dem Projekt “iCH Jugend – Ich bin ein Teil der Schweiz”.

Andi Geu, das Projekt „iCH Jugend“ führt dem Titel nach das Individuum, die Schweiz und die Jugend zusammen. Was ist aus dieser Zusammenführung bisher entstanden?
“iCH Jugend” schafft eine Plattform, auf der sich Jugendliche mit Schweizer Identitäten auseinandersetzen können. Diese Auseinandersetzung geschieht ohne fixe Agenda. Vielmehr geht es darum zu erkennen, dass Identität als soziologisches Konstrukt immer ein- und ausgrenzt: Wie verhalten sich Selbst- und Fremdbild zueinander? Weshalb bestehen Vorurteile? Ist eine Zuschreibung gerechtfertigt? Diese Fragen stehen im Vordergrund eines moderierten Workshops, welchen wir mit Schulklassen und Jugendgruppen aus lokalen Partnerorganisationen durchführen. Im Anschluss an den Workshop führen die Jugendlichen die Reflexion weiter anhand von Aufträgen, mit denen sie eine Ausstellung oder Veranstaltung erarbeiten und somit Eltern, andere Schulklassen oder ein öffentliches Publikum in die Auseinandersetzung einbeziehen. Bislang haben 250 Jugendliche aus zehn Institutionen am Projekt teilgenommen. Je nach Institution reicht die Gruppengrösse von vier Jugendlichen bis zu mehreren beteiligten Klassen à total 100 Schülerinnen und Schüler.

NCBI setzt das Projekt mit unterschiedlichen Institutionen (öffentliche, private, sonderpädagogische Schulen, Pfadi, Jugendarbeit etc.) sowie schweizweit um. Wie gelingt die breite Zusammenarbeit resp. was sind Herausforderungen?
Wir begegneten bisher zwei Herausforderungen. Einerseits erfordert das Projekt ein Engagement über einen längeren Zeitraum, was für die beteiligten Jugendgruppen mit einem Aufwand einhergeht. Die Erfahrungen zeigen: Je strukturierter die Gruppe ist, desto einfacher ist die Projektumsetzung. Diese Strukturen sind vor allem in Schulen vorhanden, die Zusammenarbeit mit der offenen Jugendarbeit erfordert dagegen mehr Anpassungen. Andererseits kam in der Romandie nur ein Projekt zustande. Dies ist jedoch nicht auf mangelndes Interesse zurückzuführen. Im Gegenteil, es haben sich zahlreiche Institutionen gemeldet, wobei diese hauptsächlich in der offenen Jugendarbeit tätig sind und sich damit auch hier primär die Herausforderung bezüglich der zur Verfügung stehenden Ressourcen stellte. Im Vergleich zur Deutschschweiz ist das Schulsystem in der Romandie zentralistischer gestaltet, was unseren Zugang zu Schulen aufgrund stärkerer formaler Vorgaben erschwert. Die Projektumsetzung in der ganzen Schweiz ist für uns indes zentral, da es um Schweizer Identität als Ganzes geht. Dies impliziert das Mitmachen von allen, insofern wir gemeinsam die Schweiz “machen”. Für die Weiterentwicklung des Projektes überlegen wir, wie wir diese breite Zusammenarbeit noch verstärkt erreichen können.

socialdesign hat „iCH Jugend“ während der ersten Projektphase bis Ende 2016 mit einer externen Evaluation begleitet. Inwiefern resultierte aus dieser Evaluation ein direkter Nutzen für die Projektumsetzung?
Auch hier möchte ich zwei Aspekte unterscheiden: die Evaluation als Prozess sowie die Evaluationsergebnisse. Für uns war es auf der einen Seite äusserst spannend, wohltuend und hilfreich, dass uns während der gesamten Projektdauer ein externes Evaluationsteam zur Seite stand, welchem wir fortlaufend Erfahrungen erzählen und darüber reflektieren konnten. Dies ermöglichte uns, konstant Rechenschaft über einzelne Projektschritte abzulegen und die Eigen- an einer Aussenwahrnehmung zu spiegeln. Ich bin überzeugt, dass dieser Prozess das Projekt bereichert hat. Auf der anderen Seite resultiert aus dem Prozess ein Schlussbericht mit den Evaluationsergebnissen und daraus abgeleiteten Empfehlungen. In diesem Bericht spiegeln sich viele positive Entwicklungen, aber auch ein paar Herausforderungen, welche auch wir feststellten und welche insofern unsere eigenen Beobachtungen bestätigen. Zugleich bringt der Bericht uns als Projektteam auch Wahrnehmungen von Projektteilnehmenden nahe, welchen wir uns so vorher nicht bewusst waren. Diese ganzheitliche Sichtweise von einem externen Standpunkt ist sehr wertvoll. Letztlich enthält der Bericht insbesondere auch für den Umgang mit den aufgetretenen Herausforderungen konkrete Empfehlungen, welche wir bei der Weiterentwicklung des Projektes einbeziehen.

Wie geht es mit dem Projekt „iCH Jugend“ weiter?
Die erste Projektphase schlossen wir Ende 2016 ab. Aktuell sind wir in Gesprächen mit Partnern und Geldgebern und an der Erarbeitung des Konzepts für die zweite Projektphase. Wir planen, das Projekt “iCH Jugend” nach hoffentlich erfolgreichem Fundraising ab Herbst 2017 für weitere 2,5 Jahre weiterzuführen – dies sowohl mit bestehenden als auch neuen Partnerinstitutionen. So liegen uns denn auch bereits Anfragen von Institutionen vor, die wir vorerst auf eine Projektumsetzung zu einem späteren Zeitpunkt verströsten mussten. Dieses Interesse zeigt das Bedürfnis für einen moderierten und doch wertfreien Rahmen, in welchem über aktuelle Themen wie Identität, Integration und Migration reflektiert werden kann. Mit ihrem Engagement brachten die teilnehmenden Jugendlichen zum Ausdruck, wie direkt und existenziell sie sich von diesen Themen betroffen fühlen.

Haben Sie persönlich dank „iCH Jugend“ neue Seiten Ihrer Schweizer Identität entdeckt?
Mir persönlich hat das Projekt primär auf eindrucksvolle Weise bestätigt, wie vielschichtig und umfassend Identität resp. eben Identitäten sind und wie viele Dimensionen die Thematik aufweist. Identität lässt sich auf persönlicher, regionaler, nationaler Ebene reflektieren, in der Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie hinsichtlich der zahlreichen komplexen Wechselwirkungen. Es ist spannend festzustellen, wie wir alle beim Versuch, Identität in Worte zu fassen, oftmals anstehen. Darin steckt eine wichtige Erkenntnis für die aktuelle Integrationsdebatte – für die “Einheimischen” gleichwohl wie für die “Zugezogenen”. An letztere wird die Erwartung getragen, sich an etwas anzupassen, wofür erstere schwerlich Worte finden. Das Projekt “iCH Jugend” ist vor diesem Hintergrund auch ein Plädoyer für mehr Empathie und Demut. Schweizer Identität lässt sich nicht auf angeblich typische schweizerische Werte reduzieren. Schweizer Identität zeichnet sich vielmehr durch ihre Komplexität und Lebendigkeit und ständige Wandelbarkeit aus, welche es für ein konstruktives Zusammenleben von allen wahrzunehmen gilt.

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg mit dem Projekt „iCH Jugend”.